An dieser Stelle möchte ich einmal über meine sehr persönliche Meinung sprechen zum Thema „Wann sollte ich mir Hilfe holen?„. In meiner Arbeit, sogar auch bei Vorträgen und Workshops taucht diese Frage häufig von Klient*innen auf.
Das liegt sicher zum Einen daran, dass psychische Probleme gesellschaftlich zwar langsam bekannter sind, aber immer noch schwer greifbar. Wer sich den Arm bricht, geht zum Arzt. Doch ab wann ist Niedergeschlagenheit eine Depression? Ab wann sind Angstzustände nicht mehr nur eine Phase?
Hinzu kommt eine destruktive Sozialisierung. Wir wachsen in dem Glauben auf, wir müssten das ertragen, aushalten, uns nicht so anstellen. Diese Glaubenssätze sind eng verknüpft mit unseren Herkunftsfamilien, aber auch gesellschaftlichen Rollen und Geschlechterbildern. Häufig erlebe ich Frauen, die eine schwere Geburt meinen aushalten zu müssen, das sei halt einfach so. Wochenbettdepressionen würden ja vorbei gehen. Und toxische Partnerschaften hat halt jeder Mal.
Ja, wir Menschen können viel ertragen. Man sieht uns vielleicht unser Leid nicht einmal an und wir funktionieren ja auch weiterhin. Besonders mit Kindern muss man schließlich funktionieren. Aber was psychologisch dann passiert, ist vielen nicht bewusst. Wir sammeln psychischen Ballast und Stress. Forschungen zeigen, dass dieser Stress uns nachhaltig verändert und auf Dauer krank macht. Emotionaler und psychischer Stress lagert sich auf unseren Genen ab und programmiert sie sozusagen um. Das hat zur Folge, dass nicht nur wir potentiell gefährdeter sind für Krankheiten, sondern auch unsere Kinder und alle nachfolgenden Generationen.
Die Idee etwas aushalten zu müssen, ist also immens schädlich. Und nich nur das. Betrachtet man beispielsweise die deutsche Geschichte und die deutsche Sozialisation, wird schnell klar, dass „Ertragen“ als Verhaltenskodex aus früheren Generationen stammt. Im Krieg und beim Wiederaufbau war schlichtweg kein Platz für weitere Probleme. Im Überlebensmodus schaltet der Mensch um und sichert in erster Linie die Grundbedürfnisse (Nahrung, Schutz, Schlaf, körperliche Unversehrtheit). Doch einmal einprogrammiert, halten sich solche Glaubenssätze lange in einer Gesellschaft.
Wer sich also fragt: „Leide ich genug, um mir Hilfe holen zu dürfen?“ sollte sich meiner Meinung nach folgender Umstände bewusst werden:
1. du leidest und spürst es
2. die Annahme, es müsse ein gewisses Maß erreicht werden, um sich Hilfe zu verdienen ist schädlich für dich und andere und nicht mehr zeitgemäß
3. Hilfe steht jedem zu, immer und bedingungslos
4. Je länger du wartest, desto gravierender werden deine Probleme und desto länger dauert der Heilungsprozess
Ich plädiere immer wieder sehr dafür, dass wir uns wichtiger werden und Prävention Teil der gesundheitlichen Versorgung wird. Manchmal braucht es frühzeitig nur ein oder zwei Therapiesitzungen, ein Jahr später aber schon wochenlange Behandlung.
Darum: wenn du dich schlecht fühlst, suche eine*n Expert*in in deiner Nähe auf. Frage nach, ob du eine psychische Störung hast, lass dich ggf. diagnostizieren und gehe deine Probleme an. Erlebe, wie Knoten sich lösen und du dich innerlich entspannst, wie du loslässt und wie sich deine Lebensqualität für dich und Menschen um dich herum verbessert.